Die Einladung lag lange auf dem Schreibtisch und damit die Frage: Einsatz in der eigenen Gemeinde, d. h. Teilnahme am Adventsmarkt rund um eine der Berliner Dorfkirchen, oder Adventsbeginn in der Winterstille der Insel Usedom, fern aller hauptstädtischen Hektik und Illumination? Die Stichworte „Gregorianik“ und „Alpirsbach“ gaben den Ausschlag: Mein Mann und ich entschieden uns für das Alpirsbacher Wochenende vom 28. bis 30. November in Benz.
Dort fand sich am Freitagnachmittag eine Gruppe von 18 Personen ein, aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Berlin und sogar aus Baden-Württemberg. Gregorianik auf Usedom – das Angebot scheint weit auszustrahlen. Unser Kreis war auch in anderer Hinsicht bunt gemischt: generations- und konfessionsübergreifend sowie gregorianisch heterogen, d. h. bestehend aus Menschen, die unterschiedlich eingeweiht waren in die Kunst der Gregorianik und ins mönchische Ritual der Stundengebete.
Gerade das Letztere, das unterschiedliche gregorianische Niveau, war für unseren Kantor Bernd Ebener eine schwierige Ausgangsposition, denn Vesper und Complet sollten noch am gleichen Abend gesungen werden. Mit didaktischem Geschick, fröhlicher Gelassenheit und einer Mischung aus Ermutigung und Korrektur manövrierte er uns durch die Untiefen, und da die Anwesenden mit viel Einsatzwillen angereist waren, kam am Freitagabend schließlich ein Klang zustande, der uns voll Hoffnung in die nächsten beiden Tage blicken ließ.
Sonnabend – ein ganzer Tag im Rhythmus der Stundengebete, dazwischen Üben und ein Studium zum Thema „Die Erwartung des Messias“, vorbereitet von Walter Pehl, Berlin. Er entfaltete in zwei Ein-heiten von je 60 Minuten das Thema einerseits unter der politischen, andererseits der messianischen Perspektive, wohl darauf verweisend, daß beide Aspekte auch ineinander verzahnt sind. Diese sehr fundiert ausgearbeiteten Seminare vermittelten ebenso wie sein Wirken als souveräner Hebdomadarius und Lektor einen Einblick in seinen schier unendlich scheinenden Wissensschatz und seine liebevolle Bezogenheit auf gregorianische Strukturen und die Menschen, die sie füllen. Schon Ali Beck nahm in der morgendlichen Homilie das Thema unter Auslegung von Psalm 89 als dem großen messianischen Erwartungsgebet des jüdischen Volkes auf und erwies sich damit zum wiederholten Male als fes-selnder Prediger.
Nach einer ausführlichen Mittagspause wurden wir bis in den Abend hinein von einem Fernsehteam des NDR begleitet, das seinen Zuschauern einen kleinen Einblick in unser Anliegen vorstellen möchte. In unserer auf Stille und Besinnung orientierten Gruppe gab es keinen Protest, aber das ruhige Üben und der Ablauf der Vesper waren verständlicherweise doch beeinflußt, obwohl das Team ausge-sprochen einfühlsam arbeitete und sich an alle Absprachen hielt. Zum Abendbrot saßen wir noch beieinander und bekamen in lebendigem Dialog interessante Aspekte der Medienarbeit vermittelt.
Nun kommt vielleicht die Benzer Feldsteinkirche mit ihrem ansprechenden Innenraum, schön ausge-leuchtet, ins Fernsehen! Dann werden die Zuschauer wohl verstehen, warum es Freude macht, in dieser Kirche zu singen. Am Abend, auf dem Weg zum Quartier, leuchtete in der Dunkelheit der Adventsstern vom Kirchturm. Wir sahen tatsächlich „das Licht in der Finsternis“: Der Advent hatte begonnen.
Am Sonntag ging es nach Matutin/Laudes und Frühstück zur katholischen Kirchengemeinde Stella Maris nach Heringsdorf. Es war die Mitwirkung unserer Gruppe zur Kirchweihmesse verabredet. Dieser Plan geriet insoweit etwas durcheinander, als dieser Termin vom zuständigen Dekan des Dekanates Greifswald dazu ausersehen war den neuen Rektor einzuführen. Die Gemeinde verlor damit gleichzeitig ihre Selbständigkeit und zusätzlich auch ihren hochverehrten Ortspfarrer Bernhard Langner. Es herrschte eine gespannte Atmosphäre, die auch durch das sehr zurückgenommene, behutsame Sprechen Langners zur Begrüßung nicht gelöst wurde. Der kalte, administrative Ton des Bischofsbriefes, der während des Gottesdienstes verlesen wurde, ließ uns, die wir wenig von der Vorgeschichte wussten, erahnen, wie den Gemeindegliedern zumute war. In Gesprächen beim nach-träglichen Zusammensein erlebten wir Schmerz, Trauer, Wut unmittelbarer. Die Frauen, mit denen wir sprachen, fühlten sich verletzt, beiseite geschoben, gedemütigt. Der kirchliche Verwaltungsakt vollzog sich offenbar ohne Anhörung. Zu diesem Thema, dass in kirchlichen Leitungspositionen die Manager-kompetenz den seelorgerlichen Einsatz zu zerstören droht, konnten auch Geschichten aus evange-lischen Landeskirchen beigetragen werden. An der protestantischen Basis scheint das Leiden an kirchlichen Funktionsträgern ebenfalls zuzunehmen.
In der Rückschau lassen sich die Tage nur bedingt als „still“ bezeichnen, eher müßten sie wohl „lebendig“ genannt werden. Benz war kein Ort des Rückzugs aus der Welt so wie auch die Beschäftigung mit der anderthalbtausend Jahre alten Gregorianik nicht als Rückzug aus dem Welttreiben zu verstehen ist. Deutlich geworden ist vielmehr, wie mir scheint, dass die gesungene Hinwendung zu Gott, das Hinhören auf den Atem, der in Lobpreis, Klage, Bitte Stimme wird, Kräfte frei setzt und Sensibilität für die Welt, den Alltag, die Menschen weckt.
Ich habe den Eindruck mitgenommen, dass unsere Gruppe schnell zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen ist und diese 3 Tage uns allen gutgetan haben. Es gab viele Gespräche in wech-selnden Konstellationen, wenn dazu Zeit war, meist abends bei Kerzenlicht und Rotwein im gemüt-lichen Pfarrhauskeller.
Vielleicht kann das hinzugekommene Erleben des Schmerzes unserer katholischen Geschwister in Heringsdorf und die daraus resultierende Erkenntnis, dass Verletzungen Kreativität lähmen, uns dazu befähigen, die während des Wochenendes gewonnene Kraft in unserem Alltag in heilendes Verhalten umzusetzen.
Zum guten Klima in Benz haben alle beigetragen, besonders aber Pfarrer Arndt Noack, der zusammen mit unserem Koch Reinald Labahn unter Beweis stellte, dass man im Benzer Pfarrhaus gut aufgehoben ist. Bernd Ebener verdanken wir die Freude gelingendes Singens. Mir – vielleicht auch anderen – hat er einen Schatz mitgegeben, einen Kanon, der nicht aus meinem Kopf weichen will und der gut zum Thema „Rückkehr in die Welt“ paßt:
„Wechselnde Pfade, Schatten und Licht – alles ist Gnade, fürchte dich nicht“.
Bericht: Erdmute Lockemann, Berlin
Nachtrag: Die Konventskollekte betrug 160,00 € und wurde bestimmt für die „Tschernobylhilfe Vorpommern e. V.“, ein Verein, der Kinder aus den durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl radioaktiv kontaminierten Gebieten unterstützt. So organisiert dieser Verein jährlich mehrwöchige Urlaubsaufenhalte für jeweils etwa 2 Schulklassen aus der Gemeinde Dobrusch (Weißrußland) in Vorpommern sowie eine große weihnachtliche Paketspendenaktion. Der Gesundheitszustand der Kinder kann dadurch medizinisch nachweislich verbessert werden. (B. Ebener)