Homilie über Ps. 89 am 21. 2. 2015 in Bad Freienwalde (Missionshaus MALCHE)

von Dr. Lorenz Wilkens, Berlin

DE GRATIA ET FIDE DEI

Liebe Schwestern und Brüder,

das griechische Wort ψαλμός bedeutet eigentlich das Zupfen’, demnach den Klang der Zither und der Harfe. Es wird zur Übersetzung des hebräischen tehilah gebraucht. Dies Wort kommt von dem Verbum talal, das eigentlich ‚schütteln’ heißt, ‚in Schwingung versetzen’, also seinerseits auf die gezupften Saiteninstrumente hinweist. Ein Psalm, eine tehilah, ist ein Lied, gesungen zur Begleitung der Zither oder der Harfe. „Psalter und Harfe, wacht auf! Lasset den Lobgesang hören!“ erinnern entsprechend zwei altbekannte Choralverse. Darin begegnet die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ‚Psalter’ – die Zither. Beide Wörter, das griechische ψαλμός und das hebräische tehilah, deuten auf die Technik, die Kunst, die zum Vortrag der Psalmen aufgewandt werden muß – die soziale Kunst des Zusammenwirkens nicht minder als die Technik des Instrumentenbaus und -spiels. Als Psalmen kommen Gedichte zu musikalischem Vortrag, die einer vielfältigen Metrik genügen. Lassen Sie mich auf das Metrum des ersten Verses (2) von Ps 89 hinweisen! Er lautet im hebräischen Urtext:

chasdé JHWH ‚olâm aschiráh / ledór wadór odía / ’ämunátechà bephí.

Ich gebe eine metrisch wie inhaltlich annähernd genaue Übersetzung:

Die Liébe des Hérrn besínge ich ímmer, / vor Júng und Ált bekénn’ ich / deine éwige Treúe, o Gótt!

Der Vers hat drei Teile; der erste hat vier Hebungen, der zweite und dritte haben je drei.

Sie empfinden den lebhaften Rhythmus dieses Verses und können sich den leichtfüßigen Klang der hebräischen Sprache dazu vorstellen. Nun nehmen Sie noch die Musik dazu, den Gesang! Zwar kennen wir seine melodischen Formen nicht, dürfen uns aber eine vielfältige und geschmeidige Inspiration vorstellen, die mit dem kunst- und lustlosen Sprechchor, dem wir in unseren Gottesdiensten die Psalmen überlassen, nichts gemein hat.

Und nun die für heute entscheidende Frage: Was haben diese Beobachtungen und Vorstellungen mit dem Thema unseres Wochenendes zu tun: „der unendlichen Huld und Treue Gottes angesichts von Krieg und Vertreibung“?

Die Antwort läßt sich leicht aussprechen, doch sie zu erläutern ist nicht leicht: Die Erfahrung der Huld und Liebe Gottes und seiner Treue, man muß nach dem hebräischen Wort ‚ämäth hinzufügen: und seiner Beständigkeit, seiner Kraft standzuhalten, läßt sich nicht festhalten ohne den Ausdruck der Gemütsbewegung, die sie hervorruft. Denn diese Erfahrung ist keine objektive Information, die man von den Personen, die damit zu tun haben, abstrahieren könnte und die durch solche Abstraktion erst zu ihrer eigentlichen Klarheit und Wahrheit käme. Sie ist auch nicht der Gegenstand einer Theorie, die man, gleichgültig, ob man davon betroffen sei oder nicht, in einer Schule lernen könnte. Vielmehr handelt es sich um eine Erfahrung, durch die unser Gemüt in seinem Grund, in seinem Tiefsten angerührt und verwandelt wird, nicht immer heftig und dramatisch, manchmal auch ganz leicht und still, wie eine verschwiegene Berührung, wie es Elia am Horeb erging, doch verwandelnd immer, so zwar, daß sie die Aufforderung an uns richtet, die Verwandlung selbst in die Hand zu nehmen, sie zu unserer Sache zu machen und mit unserem Bewußtsein zu durchdringen. Und dazu müssen wir sie zum Ausdruck bringen, wir müssen davon sprechen. Mit dieser Notwendigkeit beginnt Psalm 89:

Die Liébe des Hérrn besínge ich ímmer, / vor Júng und Ált bekénn’ ich / deine éwige Treúe, o Gótt!

Die Huld und Treue Gottes, seine Liebe und seine Kraft zu bestehen: Am Grund unseres Bewußtseins ist nicht unbewegtes, sprachloses Sein, das sich zu allem und allen gleichgültig verhielte, sondern ein Wort, von Gott an uns gerichtet. Es drängt uns, dies Wort auszudenken, und dazu müssen wir es weitergeben, wir müssen es in den uns möglichen Ausdruck übersetzen, und dazu gehört Gesang, Musik, denn das ist die Kunst, die die Mitteilung und den Ausdruck der Gemütsbewegung miteinander verbindet, und wenn wir aus der Gemütsbewegung eine soziale Angelegenheit machen wollen, bedürfen wir der Formen und Maße, die auch das vertreten können, was über alle Sprache hinausgeht.

Abschließend die schwere Frage: Was bringen wir gegen den Verdacht vor, unsere liturgischen Bemühungen im weitesten Sinne seien nichts als – im Grunde narzißtische – Ablenkung von den Leiden derer, die im Elend sind und Ungerechtigkeit und Unterdrückung erfahren?

Ich möchte auf diese Frage mit zwei Feststellungen antworten: Erstens ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß das liturgische Handeln zu einer Ablenkung von gesellschaftlichen Leiden verkommt. Doch wenn es sich so verhält, hat es seinen Ernst verloren – sich selbst. Es ist dann zu dem Geplärr geworden, das nach dem Propheten Amos von Gott verworfen wird: „Tue nur weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Psalterspiel nicht hören! Es soll aber das Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.“ (Am. 5, 23f.) Das liturgische Handeln hat seinen Ernst verloren, d. i. die Frage: Herr, was soll ich tun, was denken, um deinen Anruf zu verstehen und ihm zu genügen und nachzufolgen? Und zweitens: Ohne Bezug zu diesem Ernst ist auch soziale Arbeit, Hilfe für die Unterdrückten und Vertriebenen, nicht in Ordnung. Sie ist in Gefahr, ihrerseits zu einer Demütigung zu werden. Sie ist in Gefahr, an dem sensorium für den Ernst derer vorbei zu handeln, denen geholfen werden soll – ihrer ernsten Frage, wo es mit ihnen hinaus will. Beide Gefahren, die ich genannt habe, sind einander im Grunde komplementär: Sie handeln an der Realität und der Geltung des Bundes zwischen Gott und Menschen vorbei, über die ich morgen in der Auslegung der Geschichte von der Versuchung Jesu sprechen will.

Wenn die beiden Feststellungen, mit denen ich auf die schwere Frage geantwortet habe, zutreffen, dann zeichnet sich ab, worauf es ankommt: darauf nämlich, daß man soziales Engagement und liturgisches Handeln nicht gegeneinander ausspielt, sondern beide in einem variablen Gleichgewicht miteinander verbindet. Denn du sollst den Ernst der Frage, die Gott an dich richtet, und seine Forderung der Gerechtigkeit wahrnehmen und wahr machen in allem, was du tust und was dir widerfährt. Amen.

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