Predigt über Mt. 4, 1 – 11 am 22. 2. 2015 (Invocavit) in Bad Freienwalde (MALCHE)

von Dr. Lorenz Wilkens, Berlin

 DE TEMPTATIONE IESU

Liebe Gemeinde,

nachdem Jesus von Johannes die Taufe empfangen hatte, wurde er vom Geist in die Wüste getrieben, um vom Teufel: διάβολος – dem ‚Ankläger’, dem ‚Verleumder’, auf die Probe gestellt zu werden. Denkwürdiges Zusammenwirken des Geistes und des ‚Anklägers’, d. i. nicht der ‚Teufel’, dessen Vorstellung bei uns noch populär ist. Es ist nicht die Verkörperung des schlechthin Bösen; sondern das griechische Wort bedeutet einen Ankläger, ursprünglich durchaus im juristischen Sinn. Darin entspricht es dem hebräischen satán. Hinzu kommt, daß das ‚Versuchen’ keineswegs nur eine Angelegenheit des ‚Teufels’, des Anklägers ist. Es geschieht auch, daß Gott Menschen versucht; die bekannteste Geschichte dieses Charakters erzählt, wie Gott dem Abraham befiehlt, ihm seinen einzigen Sohn Isaak zum Opfer zu bringen – Gen 22. Ebenso kommt es vor, daß Menschen Gott versuchen, wie z. B. die Kinder Israel in der Wüste bei Massa und Meriba, wo kein Wasser war und sie zu Mose sprachen: „Gebt uns Wasser, damit wir zu trinken haben!“ (Ex. 17) Und in der Geschichte von der Versuchung Jesu ist es der Geist, der, indem er Jesus in die Wüste führt, den Zweck verfolgt, ihn zu versuchen, ihn auf die Probe zu stellen. Der ‚Verleumder’ agiert als das ausführende Organ. Es wird zu fragen sein, welche Eigenschaft, welche Energie in Jesus es ist, die hier auf die Probe gestellt wird.

Der ‚Verleumder’ entledigt sich seiner Arbeit mit drei an Jesus gerichteten Ansinnen. Das erste: „Wenn du ein Sohn Gottes bist, sprich, daß diese Steine zu Brot werden.“ Dies Ansinnen liegt nahe, denn es hat zuvor geheißen, daß Jesus nach vierzig Tagen Fasten in der Wüste hungerte.[1] Er weist die erste Versuchung des Verleumders mit den Worten zurück: „Es steht geschrieben: Nicht nur vom Brot lebt der Mensch, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes hervorgeht.“ Das ist ein Zitat aus Dt 8, 3; dieser Vers gehört zu der großen Rede über die Thorah, mit der Mose vor dem Abschied auf seinen Weg mit dem Volk Israel zurückblickt. Der bewußte Vers lautet: „Gott ließ dich (sc. Israel) leiden und hungern und speiste dich dann mit Manna, das du und deine Vorfahren nicht gekannt hatten, um dir zu zeigen, daß der Mensch nicht allein vom Brot lebt; sondern von jedem Wort, das aus dem Munde des Herrn hervorgeht, lebt der Mensch.“ Wir müssen die Frage anschließen, welche Eigenschaft, welche Energie Jesu es ist, die durch dies erste Ansinnen des Verleumders auf die Probe gestellt wird. Jesus gibt durch den Verweis auf die Wüstenwanderung, die Geschichte vom Manna, zu verstehen, daß er sich uneingeschränkt in das Volk Israel hineinstellt (wie er es bereits dadurch getan hat, daß er sich taufen ließ). Er will sich nicht darüber erheben. Der Begriff des Gottessohnes ist keineswegs so zu verstehen, daß er durch ihn über sein Volk erhoben würde. Er bedeutet nicht übermenschliche Teilhabe an der Macht Gottes, sondern das Bewußtsein der Abhängigkeit vom ihm – Demut.

Somit zu dem zweiten Ansinnen des Verleumders: Er führt Jesus auf die Spitze des Tempels und fordert ihn auf, sich von dort hinab zu stürzen. „Denn es steht geschrieben: Der Herr hat dich seinen Engeln anempfohlen; sie werden dich auf Händen tragen, damit du mit deinem Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Der Verleumder zitiert jene schönen Worte aus Ps 91, die durch die Chor-Komposition Mendelssohn-Bartholdys vollends unvergeßlich geworden sind. Und Jesus antwortet erneut mit einem Zitat aus der Thorah-Rede des Mose, Dt 6, 16: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“; an Ort und Stelle wird seine Rede wie folgt fortgesetzt: „… wie ihr ihn in Massa versucht habt.“ Diese Antwort Jesu leuchtet insofern unmittelbar ein, als der Verleumder hier nichts anderes unternimmt als Jesus zu einer Versuchung Gottes selber zu verlocken. Im Zentrum dieser Lockung befindet sich der Gedanke: ‚Gott hat dir ja zugesagt, daß seine Engel dich auf Händen tragen werden. Folglich kann er eigentlich nichts dagegen haben, wenn du seine Verheißung beim Wort nimmst, indem du dich vom Tempel fallen lässest.’ Und wieder fragen wir: Welche Eigenschaft, welche Energie ist es, die Jesus zur Weigerung bestimmt? Er sieht, daß es ebenso sträflich wie aussichtslos ist, Gott unter Druck zu setzen und Macht auf ihn auszuüben; auch moralische Macht soll man nicht gegen ihn richten; man soll ihn nicht erpressen. Warum ist es verwerflich? Weil man damit den Bund verläßt, den der Herr mit seinem Volk geschlossen hat. In diesem Sinne möchte ich sagen, das Thema des Predigttextes ist die Bundestreue. Dabei ist es keineswegs unerheblich, daß Jesus mit seiner zweiten Antwort an denselben geschichtlichen Zusammenhang erinnert wie mit der ersten: die Geschichte von dem Durst des Volkes während seiner Wanderung in der Wüste, als das Volk seinen Gott beispielhaft versuchte. Denn man soll Gott nicht versuchen.

Liebe Gemeinde, Bundestreue – dazu gehört wesentlich, daß man die Offenheit der Zukunft gelten läßt. Man soll sie weder leugnen noch durch logischen Zwang, Denkzwang, beschränken und über sie entscheiden. Zu der Art, wie man Gott empfinden soll, gehört integral das Gefühl für die Offenheit der Zukunft und mithin die Mehrdeutigkeit der Gegenwart. Die Macht Gottes ist nicht Beschränkung der offenen Möglichkeit, sondern sein Wesen ist gleichsam ihr Gefäß. Darum ist man im Recht, wenn man die Vielstimmigkeit, die man in seinem Bewußtsein und in seinem Gedächtnis vorfindet, in die Außenwelt verlängert. Man könnte sich in der Welt ohne solche Verlängerung nicht heimisch fühlen. Und die Treue zu Gott – Bundestreue – schließt die Möglichkeit ein, sich eine glückliche Erfüllung seines Lebens vorzustellen, wie man auf ein Kind hofft, und diese Vorstellung durch den Sinn für die Mehrdeutigkeit, ich möchte sagen: Mehr-Möglichkeit der Gegenwart bestätigt und angeregt zu finden. Daher widersteht die Bundestreue jenem licht- und trostlosen Realismus, der nur das für möglich, am Ende für wirklich hält, was Menschen mit ihrer Kraft und ihrer Logik, ihren Denkzwängen und ihren Techniken durchsetzen und erhalten können. Elende Selbstbespiegelung, elend, weil sie auf zwanghafte, von Angst getriebene Selbstbeschränkung folgt.

Von hier zu dem dritten Ansinnen, mit dem der Verleumder Jesus auf die Probe stellt: Er führt ihn auf einen überaus hohen Berg, zeigt ihm alle Königreiche der Welt und ihre Herrlichkeit und spricht zu ihm: „Dies alles werde ich dir geben, wenn du vor mir niederfällst und mich anbetest.“ Nun geht er aufs Ganze: Jesus soll ihn anbeten, soll ihm die Verehrung entgegenbringen, die Gott allein gebührt.

Was bedeutet es, den ‚Ankläger’, den ‚Verleumder’ anzubeten? Es bedeutet jenen zum Gott machen, der in allem, was ihm begegnet, zuerst auf das sieht, was gefährlich, weil gefährdet ist, schwach, unhaltbar und krank, und die Beschäftigung mit ihm als Gefahr erscheinen läßt. Es liegt am Tage, daß Gott nichts entgegengesetzter sein könnte als der Verleumder in diesem Sinne, und nichts dem Bund mit Gott feindlicher als seine Haltung. Indes müssen wir die Frage anschließen, ob auch dies dritte Ansinnen des Verleumders eine Lockung enthält. Ja, es ist die ansteckende Wirkung, die von einer paranoiden Gemütslage ausgeht, und ihrem Anschein von Realismus, Pragmatismus, der da spricht: ‚Du weißt so gut wie ich, daß es keine Suppe gibt, in der kein Haar zu finden wäre. Wenn du dich nun darin übst, an den dir begegnenden Menschen das Negative aufzuspüren, so wirst du gegen sie immer etwas in der Hand haben, und immer über ein Mittel verfügen, mit dem du sie zwingen kannst, dir einen Bereich einzuräumen, in dem gilt, was d u sagst.’ Der Weg von dieser miserablen Haltung zu dem Traum von der Weltherrschaft ist nicht so lang, wie man meinen möchte – die totalitären régimes des vorigen Jahrhunderts haben es bewiesen.

Liebe Schwestern und Brüder, es kann uns nicht überraschen, daß Jesus dieser Haltung nichts als bedingungslose Zurück-weisung entgegenbringt: „Fort mit dir, Satan.“[2] Ich sehe mich aber verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß Jesus auch in seiner dritten Antwort auf den Verleumder an die große Thora-Rede des Mose, das Deuteronomium, zurückdenkt: „Es steht geschrieben: Du sollst vor dem Herrn, deinem Gott niederfallen und einzig ihm dienen.“ Das ist ein Zitat von Dt 6, 13, und es ist keineswegs zufällig, daß es – nicht anders als die zweite Antwort Jesu – demselben Kapitel angehört, in dem man auch das Sch’ma Jisrael, das Tagesgebet des jüdischen Volkes, findet: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein Herr.“ (v. 4) Auch möchte ich nicht versäumen, den Vers anzuführen, der dem von Jesus in der Auseinandersetzung mit dem Verleumder zuletzt zitierten im Deuteronomium vorangeht: „Hüte dich, daß du nicht den Herrn vergißt, der dich herausgeführt hat aus dem Lande Ägypten, aus einem Sklavenhaus.“

Es ist der Gott des Bundes, dem wir die Ehre geben sollen – ihm allein. Es ist der Gott, der uns nicht zwanghaft nach dem Haar in der Suppe schielen läßt, sondern diese uns als Bild unseres Schicksals entgegenzunehmen lehrt – als Mischung von vielerlei Möglichkeiten und zugleich in jedem Augenblick einzigartig, als jenes Bündnis der Möglichkeiten, das mich ermutigt, eben das, was an meiner Person nicht modellhaft, nicht eklatant, und nicht eindeutig ist, anzunehmen aus der Hand dessen, der der Herr über die Zeit ist, weil er der Herr der Schöpfung, der Ursprung des Lebens ist. So kann ich auch annehmen, daß nicht nur ich ein durchaus gemischtes Wesen mit gemischtem Schicksal bin, sondern daß ich’s auch bei meinen Mitmenschen mit Mehrdeutigkeiten zu tun habe. Ich kann und soll in Gottes Namen dem Hang widerstehen, in diesen Mehrdeutigkeiten nichts als verdächtige und gefährliche Zwei – deutigkeiten zu sehen; ich soll in ihnen auch das sehen, was Verheißung ist. Und wenn Gott, der Herr des Bundes, zugleich der Schöpfer von allem ist, dann ist die Realität selbst bündnisfähig[3], sie ist dann weit mehr als die Welt der stummen, sprachlosen Tatsachen, die man kommentar- und reflexionslos hinzunehmen hätte, man kann und soll sich in sie hineindenken, auch hineinträumen; sie ist nicht nur die Welt der positiven Tatsachen, sie ist auch der Möglichkeitsraum, auch die Phantasie ist in ihr zu Hause, ja, ohne sie könnte man die Welt aus den Tatsachen gar nicht zusammensetzen, denn ohne Phantasie zerfällt die Welt in gleichgültige Tatsachen, so wie sich in unserem Alltag allzu oft darstellt. Laßt uns den Schmerz darüber, den wir miteinander teilen, als Hinweis auf die Wahrheit nehmen, d. i. die Wirklichkeit, nach der wir suchen und um die wir uns mühen – die Wirklichkeit des Bundes zwischen Gott und seinem Volk, des Bundes, welchen zu bedeuten die Dinge sich empfehlen. Amen.

[1] NB die Assonanz der Worte: πεινάζειν heißt ‚hungern’, πειράζειν ‚versuchen’. Damit wird darauf hingewiesen, daß bereits der Hunger die Phantasie der Verwandlung von Stein in Brot hervorbringt – Bestätigung, daß der ‚Verleumder’ nicht der schlechthin Böse ist.

[2] Am vorigen Sonntag hatte ich über die Erzählung zu predigen, in der Jesus dieselben Worte seinem ersten Jünger, Petrus, entgegenwirft, Mt 16, 23 & par., nachdem dieser ihm hat verbieten wollen, über das ihm in Jerusalem bevorstehende Leiden und Sterben zu sprechen.

[3] Cf. Klaus Heinrich, vom bündnis denken. Religionsphilosophie. Dahlemer Vorlesungen Band 4 herausgegeben von Hans-Albrecht Kücken. Frankfurt am Main 2000, S. 136 und S. 202 u. bis 204.

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