Der theol. Studienleiter, des Wochenendes, Pfr. Dr. Lorenz Wilkens, faßte auf Wunsch der Teilnehmenden die thematische Diskussion wie folgt zusammen:
Die theologischen Überlegungen des Wochenendes waren dem Thema „Gottes unendliche Huld und Treue angesichts von Krieg, Flucht und Vertreibung“ gewidmet.
In Ex 34 wird berichtet, daß Mose auf dem Berge, auf den er gekommen ist, um zum zweiten Mal von Gott die Gebote in Stein schreiben zu lassen, von diesem selbst aufgesucht und wie folgt angeredet wird: „ER ER Gottheit, erbarmend, gönnend, langmütig, reich an Huld und Treue &c.“ (V. 6 nach der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig). Gott stellt mit Mose die Verbindung her, die durch die Kenntnis seines Namens ermöglicht wird. So beginnt der Bundesschluß zwischen ihm und dem Volk Israel. In V. 10 ist vom Bund ausdrücklich die Rede: „Da, ich schließe einen Bund. Vor all deinem Volk will ich Wunder tun &c.“
„Huld und Treue“ – die zentralen Qualitäten des Bundes auf der Seite Gottes. Die entsprechenden hebräischen Wörter können auch wie folgt übersetzt werden: „Liebe und Beharrungskraft“. Der Bund fordert, daß die Huld und Beharrungskraft Gottes vom Volk mit Liebe und Treue beantwortet werden. Es handelt sich um einen asymmetrischen Bund, und dennoch einen Bund auf Gegenseitigkeit.
Asymmetrisch ist nicht nur das Machtverhältnis zwischen Gott und seinem Volk; in Gott selbst besteht eine Asymmetrie zwischen dem Maß, nach dem er Verfehlungen ahndet, und dem Reichtum seiner Vergebung; denn es heißt in Ex 34, 7: „… der (d. i. Gott) seine Huld dem tausendsten Geschlecht noch aufbehält, der Missetat, Abfall und Sünde vergibt, der aber nichts ohne Ahndung hingehen läßt, vielmehr die Missetat der Eltern heimsucht an Kindern und Enkeln im dritten und vierten Geschlecht.“ (Übersetzung von Moses Mendelssohn) Huld und Liebe bis in die tausendste Generation, Verfolgung von Schuld bis in die dritte und vierte Generation.
Diese Asymmetrie begründet zwei Bestimmungen:
- das Bilderverbot: „Du sollst dir kein Gottesbild machen noch irgendein Abbild von etwas, was oben im Himmel, was unten auf der Erde oder was im Wasser unter der Erde ist. … Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Vorfahren heimsucht an den Nachkommen bis in die dritte und vierte Generation, bei denen, die mich hassen, der aber Gnade erweist tausenden, bei denen, die mich lieben und meine Gebote halten.“ (Ex 20, 4 – 6 in der Übersetzung der neuen Zürcher Bibel) Zur Begründung des Bilderverbotes gehört die auch während der Proklamation Gottes in Ex 34 von ihm mitgeteilte Asymmetrie seines Wesens.
- Man soll Gott nicht versuchen und nicht berechnen; er wird niemals zu einem gegenständlichen, einem definierbaren Gegenüber. Man könnte sagen, man soll Verhältnis und Umgang mit ihm nicht rationalisieren.
Entsprechend ergab das Nachdenken über die Geschichte von der Versuchung Jesu (Mt 4, 1 – 11), daß Jesus der von dem Verleumder (griechisch: diábolos – von diesem Wort kommt das deutsche ‚Teufel’) ins Werk gesetzten Versuchung ein profiliertes Bekenntnis zur Thorah, zum Bund, entgegensetzt. Auf alle drei Fragen, aus denen die Versuchung besteht, antwortet Jesus mit Zitaten aus dem Deuteronomium – der großen Rede des Mose über den Exodus, die Wüstenwanderung und die Thorah, mit der er von seinem Volk, vom Leben Abschied nimmt – denn er wird vor dem Eintritt ins gelobte Land sterben. Zwei der Antworten Jesu sind dem sechsten Kapitel, eine dem achten entnommen. Im sechsten Kapitel befindet sich das „Sch’ma Jisrael“, das in das jüdische Tagesgebet aufgenommen wurde: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist e i n Herr!“[1] Es kann daher mit Fug gesagt werden, daß Jesus den Fragen der Versuchung ein entschiedenes Bekenntnis zur Thorah entgegensetzt – zum B u n d , darunter die explizite Formulierung: „Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen.“ (Dt 6, 16)
Über die Frage, was es heißt, Gott zu versuchen, haben wir einläßlich nachgedacht. Es heißt elementar: mit Gott außerhalb des Bundesverhältnisses zu tun haben und auf ihn einwirken wollen. „Der Mensch lebt nicht vom Bot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“ (Dt 8, 3) Diese Antwort Jesu auf das Ansinnen des Verleumders, er möge, sei er Gottes Sohn, da ihn hungere, die umliegenden Steine in Brot verwandeln, verweist auf die Wüstenwanderung des Volkes Israel. Der gesamte Vers 3 von Dt 8 lautet nämlich: „Er machte dich demütig und ließ dich hungern und speiste dich dann mit Manna, das du und deine Vorfahren nicht gekannt hatten, um dir zu zeigen, daß der Mensch nicht allein vom Brot lebt, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde des Herrn hervorgeht.“ (Cf. die ganze Geschichte in Ex 16.) In seinem „Murren“ gegen den Herrn war dem Volk der Sinn für die Vielfalt der Möglichkeiten, die zur Realität gehören, abhanden gekommen. Es wurde durch das Wort Gottes erneut darauf hingewiesen, damit verbunden – ein Moment der Erneuerung des Bundes. Die zweite Antwort Jesu: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ (Dt 6, 16) bedeutet die Zurückweisung des Ansinnens, Gott auf falsche Weise beim Wort zu nehmen – falsch: außerhalb des Bundesverhältnisses. Der Verleumder hatte sich in seiner zweiten ‚Versuchung’ auf ein Wort aus Ps 91 berufen: „Der Herr hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen &c.“ (Ps 91, 11) Doch er hat dies Wort falsch gedeutet, d. i.: von seinem Kontext isoliert. Denn der spricht von den Gefahren, deren Möglichkeit dem Beter vor Augen steht – der ‚Schlinge des Jägers’, den ‚Schrecken der Nacht’, dem ‚schwirrenden Pfeil am Tage’, der ‚Pest, die umgeht im Finstern’, der ‚Seuche, die wütet am Mittag’. Dagegen: „Den Höchsten hast du zu deinem Hort gemacht, dir wird kein Unheil begegnen.“ (V. 9b) Man soll Gott als die Macht anrufen, die das Unglück wenden kann, nicht aber in der Neutralität eines Beobachters, der antritt, um die Macht Gottes zu erproben (‚versuchen’); man soll nicht versuchen, ihn in die Anordnung eines naturwissenschaftlichen Experiments einzuzwängen. Das wäre ein Versuch, Gott zu ‚rationalisieren’, statt sich ihm als dem Herrn der unerschöpften Möglichkeit zu überlassen – im Sinne des Bundesverhältnisses. In diesem Sinne hatte Herr Ebener in der Einleitung zu dem Wochenende ein Wort von Anselm Grün zitiert, man solle Gott mitten im Unglück anrufen. Die dritte Antwort Jesu: „Zu dem Herrn, deinem Gott, sollst du beten und ihm allein dienen“ (Dt 6, 13) führt in die unmittelbare Nähe des Sch’ma Jisrael: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist
e i n Herr.“ (Dt 6, 4) Dabei übersetzt das Wort ‚Herr’ den
N a m e n Gottes, der nicht ausgesprochen werden darf. Einer, nur einer, dessen mit diesem Namen gedacht, der in diesem Namen angebetet werden kann -: Der Name bringt die Vertrautheit wieder, die Vertrautheit des Bundes. Das Sch’ma Jisrael ist die tägliche Erneuerung des Bundes. Gottesverehrung ohne solche Erneuerung sollst du nicht unternehmen; „du sollst keinem anderen dienen“, auch nicht – ein keineswegs willkürlich erdachtes Beispiel: im Sinne eines Kultes der reinen Unterwerfung unter die Allmacht. Wenn darin die Vertrautheit, auch Gegenseitigkeit des Bundes fehlt, ist es Götzendienst. Denn sie kann sich von der Verlockung des Beters, selbst allmächtig zu werden, nicht befreien, und eben diese Lockung war es, auf die der Verleumder mit seiner dritten ‚Versuchung’ zielte.
All dies angesichts von Krieg, Flucht und Vertreibung: Das Bundesdenken führt zu keiner Position, die ein- für allemal, garantierbar, von Angst, Verwirrung und Zweifel befreien würde. Es verweist uns auf die Dramatik der Geschichte als den Ort, an dem der Herr des Bundes neu entdeckt werden muß, neu entdeckt werden kann, weil er sich in neuen Formen bewährt. Denn der eine Herr des Bundes ist der Herr der vielen Möglichkeiten.
+
Anmerkung: Ich danke Helmut Ruppel für den Hinweis auf eine Studie des schwedischen Theologen Birger Gerhardsson zu der Versuchungsgeschichte, die über deren Bezug zu Dt 6, besonders zum Sch’ma Jisrael, aufklärt.
[1] Übrigens zitiert Jesus es in seiner Antwort auf die Frage nach dem höchsten Gebot – Mc 12.