Homilie über die Bedeutung der Musik im Gottesdienst am Samstag, den 18.2.2012 in Pankow

 11. Alpirsbacher Invokavit

Berlin, Alt-Pankow

24. – 26. Februar 2012

Homilie über die Bedeutung der Musik im Gottesdienst
am Samstag, den 18. 2. 2012 in Pankow

Von Lorenz Wilkens, Berlin

(Anmerkung von BE: Der Homiliator hatte in seinem ausgedruckten Exemplar in den hier folgenden Auslassungen handgeschriebene Notenbeispiele eingeklebt und jeweils gesungen.)

Liebe Schwestern und Brüder,

eine Gruppe von fünf, von sieben Menschen sitzt zusammen. Sie hat nichts zu tun; es gibt nichts Bestimmtes zu besprechen, keine Aufgabe, kein Problem zu lösen. Es ist kein ‚Termin’. (terminus heißt die Grenze.) Es handelt sich nicht um eine zeitlich begrenzte Verabredung. Die Zeit der Versammelten ist unbegrenzt. Ihre Gedanken lösen sich von der Arbeit und dem, was sie sonst zu besorgen haben. Erinnerungen treten ins Bewußtsein. Manche reichen bis in die Kindheit zurück – Bilder, Zustände von Licht und Schatten, Klänge, Gesten, Worte. Der Raum des Bewußtseins wird als solcher fühlbar. Er ist wie eine Hülle um das bedürftige, verletzliche Ich, sein Schonraum.

Wie von ungefähr s u m m t einer der Versammelten einen Ton; es geschieht unwillkürlich. Die anderen sind nicht überrascht. In dem Ton ist nichts Fremdes. Sie nehmen daran keinen Anstoß. Sie nehmen den Ton als Gleichnis der Bahn, in der ihre Gedanken, ihre Erinnerungen dahin fließen. Es ist der sinnliche Ausdruck dieser Bahn. Sie kommen in diesem Verständnis des Tons überein. Ihre Gedanken und Erinnerungen sind verschieden; die Bahnen ihrer Gedanken sind verschieden. Doch sie einigen sich auf einen gemeinsamen Ausdruck. Dazu fügt sich die Erwartung, daß sie auch die Bahn, das Gebiet der Gedanken finden mögen, die ihnen gemeinsam sind. Sie nehmen den Ton als Wegweiser dazu.

Der Ton verklingt; sie kehren ins Schweigen zurück. Doch sie finden es verwandelt; es ist gesammelter, zugleich heimlicher. Nach einer Zeit summt ein anderer denselben Ton. Er klingt anders. Es ist schon eine Antwort, eine zustimmende: Ja, die Zeit, da wir das Gebiet der Gedanken betreten werden, die wir miteinander teilen, ist näher gekommen. Wieder Schweigen. Darnach erneut der Ton, nun eine Oktave höher. Er kommt von einer Frauenstimme. Die Unterscheidung der Geschlechter kommt ins Spiel, die Spannung zwischen ihnen. Das Nachdenken darüber gehört in das Gebiet der gemeinsamen Gedanken. Der weiblich hohe Ton bewirkt eine Erhellung. Sie verändert unsere Vorstellung von dem Gebiet der gemeinsamen Gedanken. Vorher erschien es wie ein weites Feld; darin zeichneten sich Linien nur schwach ab. Jetzt ist es wie eine bewohnte Landschaft. Wir werden all unsere Formkraft benötigen, um es darzustellen. Es unterscheiden sich Linien und Farben voneinander – mit ihnen die Affekte. Der Impetus der Heiterkeit kommt näher, aber auch die dunklen Farben des Ernstes und der Traurigkeit.

Einer der Anwesenden verspürt das Bedürfnis, der Veränderung zu entsprechen. Die seelische Spannung hat unter den Versammelten zugenommen. Es ist genug der Tonwiederholung. Sie würde sich in Monotonie verlaufen; die steht uns nicht an. Nicht ohne Witz summt er nun um einen halben Ton tiefer.

Es folgt ein qualitativer Sprung. Es ist kein Halten mehr, es ist wie eine Entladung: Jemand schließt eine ganze Tonfolge an:

Die wörtliche Identifizierung läßt nicht auf sich warten: „Weiß mir ein Blümlein blaue.“ Gesungen:

Aber nein,“ ertönt ein Einspruch, es ist vielmehr: „Nun lob’, mein Seel’, den Herren“. Hört, wie es schwingt – gesungen:

Laß gut sein,“ sagt ein Weiser unter den Anwesenden. „Es ist b e i d e s.“ Eros, irdische Liebe, und Lob Gottes. Die Melodie kann beide tragen.

*

Halten wir hier inne. Was ist erreicht? Zwei Lieder – mit ihnen auch das Gebiet der gemeinsamen, der sozialen Gedanken? Inwiefern? Gewiß, die Lieder hat niemand von uns erfunden; sie gehören zur Tradition. Die Melodie ist mehr als 500 Jahre alt. Wir alle kennen sie. Ein Abstieg von vier Stufen, die Dur-Tonleiter hinab, die erste Stufe durch einen Auftakt betont. Dann ein Quartsprung hinauf, zurück zum Ausgangspunkt, von da zwei Stufen hinauf zu der Terz, die hell ist wie ein Lächeln.

Diese Beschreibung ruft in uns den Gedanken an eine gemeinsame Bewegung hervor, eine Folge von Tanzschritten: Vier Stufen hinab, darnach bringen uns eine Kehrtwendung und ein Sprung – ist es ein rascher Flug? – nach oben zurück, endlich finden – erfinden – wir zwei weitere Stufen und kommen in einer Höhe an, die uns mit dem Licht verbindet, als schwebten wir darin.

Und nun das Merkwürdige: Zu der Vorstellung, die die Melodie in uns hervorruft, gehört das Gefühl, daß wir nicht unterscheiden können, ob wir in dem Tanz geführt und getragen werden oder ob wir seine Bewegungen mit eigener Kraft und Entscheidung ins Werk setzen. Wir werden getragen, doch dabei entsteht ein Wohlgefühl gleich dem, das unsere frei gewählten Handlungen begleitet. Darin besteht die elementare Wirkung der Musik. Wir werden von unserer Gemeinsamkeit getragen, aber sie setzt sich unserem Willen und Bewußtsein nicht entgegen, sondern setzt sie frei. In die Bewegungslust, die wir mit den Tieren teilen, die animalische Bewegungslust, die Freude an Laufen und Springen, Geradeaus und Wendung, Oben und Unten, Links und Rechts, zieht das Bewußtsein ein, die Logik (als Ordnung der Töne und Klänge), nicht durch ‚subjektiven’ Entschluß des einzelnen, sondern es ist eine Wirkung der Gemeinsamkeit. So repräsentiert die Gesellschaft sich und die Welt als ihren Raum. Denken wir hier an den Anfang unserer Überlegung zurück: Da war ein Ton der sinnliche Ausdruck der Übereinkunft zwischen den Gedankenbahnen der einzelnen Anwesenden. Und nun haben wir eine Tonfolge, eine Melodie: Erschließt sie nicht das Gebiet der gemeinsamen Gedanken? Gehört sie nicht selbst dazu?

Die Melodie ein sozialer, ein allgemeiner Gedanke – woran erkennt man sie als solchen? Ich möchte sagen, ihr eignet eine Plausibilität, ein Sinn – als wäre sie ein Wort. Ein nicht-sprachlicher Sinn – worin besteht er?

Da sind zwei Entsprechungen: zum einen die zwischen dem Abstieg in der Reihe, der geradlinigen Folge gleichgroßer Schritte, der Skala, und dem Sprung, der dieselbe Entfernung durchmißt wie zuvor die Schritte, zum anderen die Entsprechung zwischen der abwärts führenden Richtung der Schritte v o r und der aufwärts führenden der Schritte n a c h dem Sprung. Das Gleichgewicht zwischen beiden Strecken der Melodie wird durch das Innehalten der Bewegung auf der Terz erreicht. Mithin kann man eine dritte Entsprechung hinzufügen: zwischen dem Quartsprung hinab in der Mitte des Melisma und dem Stillstand an seinem Ende – Entsprechung zwischen Sprung (oder Flug) und Ruhe. Noch einmal die Entsprechungen in Stichworten:

(1) Schritte – Sprung (4/1)

(2) Abstieg – Aufstieg

(3) Flug – Stillstand.

Sieht man auf diese Gruppe von drei Entsprechungen im ganzen, so fällt einem eine vierte ein: die zwischen einer Person, die die abwärts führenden Schritte tut, und einem anderen Wesen, das sie sich umwenden, zu ihrem Ausgangspunkt zurück und noch darüber hinaus in die Höhe fliegen läßt. Dieser Flug kommt damit zu Ende, daß die Person die Kraft, die ihren Flug bewirkte, anerkennt und in dieser Anerkennung Befriedigung und Ruhe findet. Also

(4) die Entsprechung zwischen zwei Partnern, zwei an ein und demselben Ereignis Beteiligten.

Diese Entsprechung ist in allen drei zuvor genannten anwesend und wirksam. M. a. W., das besagte Melisma ist ein Gedanke, fähig, sozialer Erfahrung als Gefäß zu dienen, ihre Sozialität zu pointieren und zum Gleichgewicht, zur Integrität zu bringen. Das ist überhaupt das, was ein musikalischer Gedanke vermag. Das ist ein Gedanke, der einer Erfahrung eine Form geben, dadurch ihre soziale Qualität namhaft machen und sie so für die Erinnerung festhalten und dem Bewußtsein als Orientierung empfehlen kann. Dabei ist ganz offen, welchen Geschichten er sich sozusagen als Behausung und Kommentar zugleich darbietet. Man kann sagen, er ist schicksalsfähig; daß er in dem angezeigten Sinne für unendliche viele Geschichten ‚gelten’ kann, macht den Zug des Geheimnisses an ihm aus. Denn das Geheimnis – das ist, auch im biblischen Sinne, der Wille des Schöpfers, der sich verborgen durch die Geschichte zieht – die von ihm ursprünglich erdachte Vollkommenheit der Welt, die sich an deren Ende offenbaren soll.

*

Somit endlich zu der Frage, was das Gesagte mit dem Gotteslob, mit der Aufgabe des Gottesdienstes zu tun habe. Wir sahen schon, die besagte Tonfolge dient zwei Liedern als Melodie, einem ‚weltlichen’ und einem ‚geistlichen’; ich hatte gesagt: das eine Mal dem Eros, der irdischen Liebe, das andere Mal dem Lob Gottes. Nun möchte ich hinzufügen: In beiden Fällen dient sie gleichermaßen sinnfällig als Gefäß der Bedeutung.

Weiß mir ein Blümlein blaue“: Der Sänger steigt in einfachen Schritten, ohne rhythmische Komplikation, an den Tönen hinab. Der Abstieg ist auch ein diminuendo, ein Leiser-Werden; der Sänger kehrt bei sich ein. Er findet die Erinnerung an die Geliebte – das ‚Blümlein’ – in sich vor. Doch wie er sich ihr mit seinem Empfinden annähert, muß seine Bewegung sich umkehren. Sie darf nicht weiter abwärts, nicht weiter nach innen, sie muß in die Höhe und nach außen führen. An der blauen Farbe der Blume entzündet sich seine Liebe. Er muß sie äußern, in ihr muß er sich der Welt wieder öffnen; sieht er die blaue Blume, so ist es, als erhöbe er die Augen zum Himmel; der nächste Vers des Liedes lautet denn auch: „von himmelischem Schein“.

Ähnlich das andere Lied: „Nun lob’, mein Seel’, den Herren“: Auch hier geht die Bewegung des Gedankens zunächst nach innen. Der Sänger besinnt sich auf seine Seele. Die Seele – das ist dies am Leben, daß es sich in jedem Augenblick, was immer er enthalten möge, auch selbst fühlt. (Der Berliner Theologe Friedrich Schleiermacher sprach in diesem Sinne vom „unmittelbaren Selbstbewußtsein“.) Dahin richtet sich der Sinn des Sängers. Doch darin findet er zu allererst den Herrn vor. Denn was ist Gott, wenn nicht der unendliche, unfaßbare Wille, der unserem Leben zu Grunde liegt? Und so wird auch hier der Sänger zur Umkehr bewogen – vom Ab- zum Aufstieg, von innen nach außen. Denn wer sich nur gründlich auf sich selbst besinnt, erhält den Begriff dessen, der die ganze Welt umfaßt – die Erfahrung Gottes. Darum schlägt er die Augen auf und

s i e h t ihn überall, empfindet überall, was er in der Tiefe seines Herzens gefunden hat: die grundlose Liebe, die sich in allem Werdenden als Zweck begegnet. „Nun lob’, mein Seel’, den Herren, was i n m i r ist, den N a m e n sein.“

*

Somit zu der für heute entscheidenden Frage: Wie kommt ein Mensch von dem, was i n i h m ist, zu der Anrufung, der Verehrung des göttlichen N a m e n s ? Wie kommt man vom Selbstgefühl, dem ‚unmittelbaren Selbstbewußtsein’, zur Begegnung, zur Kommunikation mit Gott? Welche Aufgabe erfüllt dabei die Musik?

Liebe Schwestern und Brüder, wir sahen am Anfang: Ein Ton, in einer Gruppe gesummt, kann von jedem Anwesenden als Gleichnis der Bahn aufgenommen werden, in der seine Gedanken, seine Erinnerungen dahin fließen. Der Ton weckt damit die Erwartung, daß die Anwesenden das Gebiet ihrer gemeinsamen Gedanken finden mögen. Er macht sich zum Träger dieser Erwartung. Er ist das Gleichnis einer Bahn. Er hat in jedem einzelnen Anwesenden das Gefühl für die Bahn seiner Gedanken geweckt. So hat er zwischen dem Summenden und jedem von den anderen Anwesenden eine Brücke hergestellt. Als Gleichnis der Bahn mag er daher auch zur Realisierung der Gruppe im ganzen führen, und sie die Gedanken finden lassen, die sie zu einer Gruppe verbinden.

Darnach verfolgten wir den Weg der Gruppe zu einer Tonfolge. Wir sahen, wie mit ihr in die animalische Bewegungslust die Logik einkehrt und zeigten in diesem Sinne die der Musik möglichen, ihren Sinn begründenden Entsprechungen von Ab und Auf, Schreiten und Springen, ungehemmter Bewegung – Fliegen – und Ruhe im Stillstand, und in all diesem die möglichen Entsprechungen zwischen z w e i e n , mithin die soziale Dimension aller Erfahrung, die für die Möglichkeit des Gleichgewichts, der Integrität, auch der Erfüllung des Lebens verantwortlich ist. Ich glaube, jetzt müssen wir nur noch einen Gedanken hinzufügen: Wenn man an Gott denkt, dann ist das, was da denkt, die Sehnsucht nach einem ungestörten, sinnvollen Zusammenspiel aller dieser Entsprechungen. Sie sollen in ihrem Zusammenwirken das Ganze der Wirklichkeit überhaupt bilden! Das heißt ja: Sie wird von Gott umfaßt. Wenn man einmal die Erfahrung der Integrität macht, des Gelingens, des Zu-Ende-Kommens einer Erfahrung und mithin die Erfahrung der sozialen Gerechtigkeit, so m u ß sich diese Erfahrung zum Ausblick auf die Welt im ganzen öffnen und weiten. Sie kann es, weil man empfindet, daß Gott, der die Welt umfaßt, einen in dieser Erfahrung angerührt hat. Und da ist beständig der Übergang zwischen Innen und Außen, hin und her, der Wechsel zwischen dem Abstieg – der Einkehr in sich selbst – und dem Aufstieg – der Öffnung der Augen, des Bewußtseins in die Welt, beständig die Einladung zum Ausgleich, zum Gleichgewicht zwischen Selbstgefühl und sozialer Erfahrung und zu ihrer gegenseitigen Spiegelung, auch die beständige Notwendigkeit dieses Ausgleichs. Die Musik – so viel zeigte heute schon der erste Ton – ist das Element dieser Übergänge, dieses Wechsels, dieses Ausgleichs, dieser Spiegelung. Darum ist sie für die Verehrung Gottes von elementarer Bedeutung.

*

Ich schließe mit 1. Sam. 16, 23: „Wenn nun der Geist Gottes über Saul kam, so nahm David die Harfe und spielte mit seiner Hand; so erquickte sich Saul, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.“ Amen.

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