Homilie am 12.03.2011 im Rahmen der Matutin des Wochenendes „Alpirsbacher Invokavit“

Homilie
am Samstag, 12. März 2011, 7:00 Uhr,
Alte Pfarrkirche „Zu den vier Evangelisten“, Berlin-Pankow
im Rahmen der Matutin des Wochenendes „Alpirsbacher Invokavit“

von Dr. Lorenz Wilkens, Berlin

Text: Jesaja 42, 10 – 43, 1

Liebe Schwestern und Brüder,

dieser Text stammt nicht von Jesaja, sondern von einem unbekannten Propheten. Er lebte im 6. Jahrhundert v. Chr. Geb., in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Im Jahre 587 v. Chr. Geb. war das Königreich Juda von der Armee des babylonischen Königs erobert und zerstört worden. Auch der Tempel in Jerusalem war entweiht und zerstört worden, die jüdische Oberschicht ins Zweistromland verschleppt, wo sie ein entrechtetes Leben fristete. Davon singt Ps 137: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die daselbst sind. Denn dort hießen sie uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserem Heulen fröhlich sein: ‚Singet uns ein Lied von Zion!’ Wie sollten wir des Herrn Lied singen in fremden Landen? Meine rechte Hand soll verdorren, wenn ich dein vergesse, Jerusalem.“ Und nun heißt es in unserem Text, im 42. Kapitel des Jesaja-Buches: „Singt dem Herrn ein neues Lied, seinem Ruhm vom Ende der Erde her.“ Der Prophet – man nennt ihn hilfsweise den zweiten Jesaja, Deutero-Jesaja – ist überzeugt, daß die Zeit des jüdischen Elends, des rechtlosen Exils, ihrem Ende entgegen geht. Die Rettung und Heimkehr des jüdischen Volkes steht bevor; es wird eine Rettung sein, die die ganze Welt angeht. Denn der Prophet sagt: „Singt dem Herrn ein neues Lied, seinem Ruhm vom Ende der Erde her, die ihr hinabreicht in das Meer und die ihr darin seid, ihr Inseln und ihr, die ihr auf ihnen wohnt! Die Wüste und die Städte werden einstimmen, die Gehöfte, die Kedar bewohnt (d. i. ein Stamm im Norden der arabischen Halbinsel), die Felsenbewohner werden frohlocken, laut jauchzen vom Gipfel der Berge. Dem Herrn werden sie die Ehre geben und seinen Ruhm auf den Inseln verkünden.“ Auf den Inseln – weit draußen im Meer. Man kann fragen, was die Rettung des jüdischen Volkes die ganze Welt angehe. Wie um auf diese Frage zu antworten, fährt der Prophet fort: „Der Herr zieht aus wie ein Held, wie ein Kriegsmann weckt er die Kampfeslust, stimmt den Schlachtruf an, stößt das Feldgeschrei aus, gegen seine Feinde erweist er sich als Held.“ Wir erinnern uns an das Osterlied „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ von Paul Gerhardt. Denn dessen zweite Strophe lautet: „Er war ins Grab gesenket, der Feind trieb groß Geschrei; eh ers vermeint und denket, ist Christus wieder frei und ruft Victoria! schwingt fröhlich hier und da sein Fähnlein als ein Held, der Feld und Mut behält.“ Die Vorstellung des Helden ist von Gott auf seinen Christus übergegangen – und mit ihr die des göttlichen Kampfes, aber zugleich die der Befreiung des jüdischen Volkes von seinem tödlich elenden Schicksal. Christus in der Mitte zwischen dem gebundenen Volk und seinem göttlichen Befreier; in ihm kommt das Schicksal des Leidens mit der Kraft der Befreiung überein. Der Gedanke muß uns beschäftigen. Doch zunächst: Wenn Gott zum Kämpfer, zum Helden wird, so geht es wohl die ganze Welt an. Das ist der Gedanke des Propheten. Allein was heißt es – Gott kämpft, Gott ist ein Held? Auf diese Frage antwortet die folgende Schilderung des Propheten: Sie beginnt damit, daß Gott spricht, daß er sein Schweigen bricht: „Lange bin ich still gewesen, habe ich geschwiegen, habe mich zurückgehalten.“ Das Schweigen Gottes – es scheint uns nur allzu bekannt zu sein. So viel Getöse um uns her – Lärm von Produktion, Verkehr, Propaganda, Kriegslärm und Geschrei der Elenden, der Vertriebenen, Getretenen, Mißbrauchten – und Gott schweigt. Angestrengt hören wir zur anderen Seite hin – er schweigt. Warum, o Herr, wie lange noch? Was bedeutet sein Schweigen? Wir können es nicht deuten – wir können Worte deuten, nicht aber Schweigen. Es besagt – nichts. Oder ist es nur unser eigenes Verstummen, die eigene Sprachlosigkeit, die uns aus der Stille entgegenkommt? Wir können’s nicht entscheiden, aber das Elend dieser Zweideutigkeit wird, sagt der Prophet, vorübergehen, denn der Herr wird sein Schweigen brechen: „Wie die Gebärende werde ich nun schreien, werde so sehr schnauben, daß ich um Luft ringen muß.“ Das ist wahrhaftig ein durchdringender Schrei. Eben war der Herr ein Held, jetzt wird er mit einer Frau verglichen, der die Geburt eines Kindes bevorsteht. Er vergleicht sich selbst damit. Der Herr liegt in Wehen; die bevorstehende Geburt führt ihn an die Grenze seines Lebens. Wer wird sein Kind sein? Auch hier zögert der Prophet nicht mit der Antwort: „Berge und Hügel werde ich ausdörren, und all ihr Grün lasse ich vertrocknen, aus Flüssen mache ich Inseln und Schilfteiche lasse ich austrocknen. Und Blinde lasse ich einen Weg gehen, den sie nicht kannten, Pfade, die sie nicht kannten, lasse ich sie betreten, die Dunkelheit vor ihnen mache ich zu Licht, und holpriges Gelände wird flach. Dies sind die Dinge, die ich tue und von denen ich nicht lasse.“ Es handelt sich um eine Verkehrung, eine vollständige Verwandlung der Wirklichkeit. „Aus Flüssen mache ich Inseln.“ Dort, wo Versinken in der dunklen Tiefe dir drohte, kannst du plötzlich gehen, du findest Halt und klare Aussicht. „Die Dunkelheit vor ihnen – den Blinden – mache ich zu Licht.“ Liebe Schwestern und Brüder, das ist Aufklärung, plötzliche Aufklärung. Wenn du dich auf die gesellschaftliche Realität, den Ursachenzusammenhang der in ihr wirkenden Kräfte, besinnst, so mag sie dir wohl als ein mächtiger, dunkler Strom erscheinen, der dich treibt, du weißt nicht wohin, treibt, wohin du nicht willst. Und plötzlich siehst du Land – Land dort, wo vorher nur dunkle Tiefe war. In die Verworrenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse kehrt Orientierung ein – Halt und klare Aussicht. Es folgt der Sturz der Idole, der falschen Orientierung, deren Überzeugungskraft immer Unruhe und Angst – Nervosität und Hysterie – beigemischt war, so daß du dich ihrer schämst und ihnen mißtraust, wenn du einmal ruhig erwachst: „Zurückgewichen, tief in Schande sind, die auf Standbilder vertrauen, die zu Gußbildern sagen: Ihr seid unsere Götter!“ Wenn die Flüsse in Inseln verwandelt sind, wenn dein Fuß dort Halt findet, wo du zuvor fürchtetest, er werde in  undurchdringlicher Tiefe versinken, endet der Magnetismus der Macht und ihrer Kultbilder, und du siehst, daß es dieser Magnetismus, dieser Sog war, von dem aus sich die Vorstellung der dunklen Tiefe über die ganze Gesellschaft verbreitete. Der Zustand wird vergehen, denn der Prophet fährt fort: „Die ihr taub seid, hört, und ihr Blinden, schaut her, damit ihr seht! Wer ist blind, wenn nicht mein Knecht und taub wie mein Bote, den ich sende? Wer ist blind wie Meschullam (d. i. der Torhüter am Osttor des Tempels zu Jerusalem) und blind wie der Knecht des Herrn?“ Hier schilt der Prophet die Würdenträger des jüdischen Volkes. Sie sind der Knecht des Herrn, er hat sie gesandt, doch sie sind blind, exemplarisch blind: „Wer ist blind, wenn nicht mein Knecht?“ Die Würdenträger, die Funktionäre sind in die Verworrenheit verstrickt und befangen in dem Dunkel der gesellschaftlichen Realität. „Viel zu sehen – du aber hast nie darauf geachtet. Die Ohren offen – aber nie hat er zugehört.“ (v. 20) Darnach v. 23 – 25: „Wer von euch wird darauf horchen, wird acht geben, damit er hört für die Zeit, die kommt? Wer hat Jakob der Plünderung preisgegeben und Israel denen, die Beute machen? War es nicht der Herr, gegen den wir gesündigt haben und auf dessen Wegen sie nicht gehen wollten? Da hat er Zorn ausgegossen über ihn, seine Wut, und die Gewalt des Krieges, und diese hat ihn von allen Seiten versengt, er aber hat nicht erkannt.“ Der Krieg, der das jüdische Gemeinwesen zerstört hat, war die Strafe Gottes. Aber können wir diesen Gedanken noch ertragen – der Krieg eine Strafe Gottes? Liebe Schwestern und Brüder, wir können ihn nicht ertragen, weil wir uns nicht klar machen, woraus er entsteht: der Logik des Bundes. Der Bund bindet Gott wie das Volk. Wenn eine seiner Seiten ihn bricht, ist er im ganzen gebrochen. Wenn das Volk den Bund bricht – die Rechtsordnung der Gesellschaft, die Gerechtigkeit verläßt -, so ist er im ganzen gebrochen, auch Gott kann ihn nicht halten; er erscheint nur mehr als Macht der Verwirrung und Zerstörung. Die Macht des Seins, die Gott ist, verliert ihren Halt, den Bund, und kehrt sich gegen sich selbst. Diesen Gedanken kann der Prophet – und wir mit ihm – aber nur ertragen, wenn er ihn vor den Horizont einer Erneuerung, einer Wiederherstellung des Bundes stellt: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ (43, 1) Ihn ermutigt dazu die Nachricht oder das Gerücht, daß Kyros, der persische Großkönig, der jetzt das Zweistromland beherrscht, angekündigt hat, er werde den Juden die Rückkehr in ihr Land und die Wiederherstellung ihres Gemeinwesens gestatten; diese Ereignisse werden im Buch Esra beschrieben.

Liebe Schwestern und Brüder, wir kommen zum Schluß auf die Frage, was diese Begebenheiten mit Jesus und seiner Passion zu tun haben. Denn morgen soll die Passionszeit beginnen. Unsere Auslegung des 42. Kapitels des Jesaja-Buches hat das Schicksal Jesu ja berührt – als wir uns an Paul Gerhardt erinnerten, der das Bild von Gott als dem  H e l d e n  in dem Osterlied auf Christus übertrug – und mit ihr die des göttlichen Kampfes, auf Christus aber zugleich die der Befreiung des jüdischen Volkes von seinem tödlich elenden Schicksal. Christus, sagte ich, befinde sich in der Mitte zwischen dem gebundenen Volk und seinem göttlichen Befreier; in ihm komme das Schicksal des Leidens mit der Kraft der Befreiung überein. Darin liegt sein geschichtliches Geheimnis. Es gibt Zustände des Elends, der allgemeinen Entfremdung und Verfeindung, aus denen nur der herausführen kann, der das  g a n z e  Volk repräsentiert, weil er das Leiden des ganzen Volkes am Leibe trägt. Die Würdenträger, die das Volk repräsentieren sollen, versagen – seien es die politischen, seien es die religiösen. Denn sie leben und denken an dem Elend des Volkes vorbei. Sie tragen dazu bei, weil sie es nicht im Kopf haben. Und weil sie dazu beitragen, haben sie es nicht im Kopf. Zu dem allgemeinen Elend trägt die Suggestion bei, die Wirklichkeit verflüchtige sich in Angst; denn es ist keine klare Darstellung von ihr vorhanden. Die Verdrängung des Leidens und seiner Ursachen breitet sich kontagiös aus, und die Ansteckung wirkt auch auf die Leidenden. Auch sie tendieren dazu, sich an die entleerten Formen der Repräsentation zu klammern. Da kommt ein Unbefangener, der ist frei von dem Mechanismus der Verdrängung. Er ist gar nicht in der Lage, den falschen Formen der Repräsentation genehm zu sein; er bringt es nicht einmal dazu, ihren Anspruch zu empfinden. Das wird ihm als Arroganz zur Last gelegt. Er wird gehaßt. Er wird zum focus der Aggression. Er wird, wie der NS sagte, „ausgesondert“. Doch eben dadurch wird er zum Vorboten des neuen Lebens, der wiederhergestellten Gerechtigkeit, der Erneuerung des Bundes. Liebe Schwestern und Brüder, diese Gedanken führen uns zu dem Lied vom leidenden Knecht Gottes aus dem Jesaja-Buch – Is 53, Deutero-Jesaja. Wir haben im „Studium“ Gelegenheit, es näher zu erörtern. „Die Strafe liegt ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Amen.

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