Predigt am Sonntag Invokavit – 13.03.2011 – im Rahmen des Wochenendes „Alpirsbacher Invokavit“

Predigt
für den Gottesdienst am Sonnag Invokavit, 13. März 2011, 10:00 Uhr,
Alte Pfarrkirche „Zu den vier Evangelisten“, Berlin-Pankow
im Rahmen des Wochenendes „Alpirsbacher Invokavit“

von Dr. Lorenz Wilkens, Berlin

Text: Genesis 3, 1-24

Liebe Gemeinde,

im dritten Kapitel der Genesis wird erzählt, wie das Leben der ersten Menschen im Paradies gestört wurde, so daß es zu ihrer Ausweisung aus dem Paradiese kam. Die christliche Tradition nennt diese Erzählung die Geschichte vom Sündenfall. Es handelt sich um die Ursünde; sie wird nach christlicher Auffassung von einer Generation zur nächsten weitergegeben – man spricht von der Erbsünde. Die Ursünde – das ist ein Akt des Ungehorsams. Der Herr hatte in die Mitte des Gartens zwei besondere Bäume gepflanzt – den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Und er hatte den Menschen verboten, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen; „denn an dem Tage, da du davon issest, wirst du gewiß sterben.“ (Gen 2, 17)

Wir sehen, die Geschichte von der Ursünde hat zwei Voraus-setzungen: die erste, daß der Genuß einer Frucht des verbotenen Baums den Menschen die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, d. i. das Gewissen, vermittele; die zweite, daß dieser Genuß den Tod bringe. Wenn nun in den Menschen das Nachdenken beginnt, müssen sie unweigerlich auf die Frage kommen, ob es zwischen dem Gewissen und dem Tod einen Zusammenhang gebe. Und wenn sie auf den Baum sehen, der in der Mitte des göttlichen Gartens steht, so muß er ihnen diesen Zusammenhang zwischen dem Gewissen und dem Tod bedeuten. Doch es ist für sie ein Zusammenhang zwischen zwei Unbekannten; sie haben die Erkenntnis des Guten und des Bösen nicht, und sie wissen nicht, was Sterben heißt.

Liebe Gemeinde, wir müssen uns an dieser Stelle fragen, was das für ein Zustand ist: Man weiß, es gibt die moralische Erkenntnis, und es gibt den Tod, denn Gott hat von beiden gesprochen. Und es besteht ein Zusammenhang zwischen beiden. Man kann offenbar eines ohne das andere nicht haben. Die Frucht des Baums ist das Symbol ihres Zusammenhangs. Es gibt beide, aber man kennt sie nicht, man weiß nicht, was sie sind. Was ist das für ein Zustand? Es gibt die Moral, aber ich weiß nicht, was das ist. Es gibt den Tod, aber ich weiß nicht, was das ist. Doch irgendwie erklärt eines das andere. Denn ich kann das eine ohne das andere nicht haben.

Der nächste Schritt des Nachdenkens kann sein: Das Sterben wird etwas sein, das wir fürchten müssen, etwas Schreckliches. Sonst hätte Gott es nicht als Strafe angedroht. Und andererseits muß es die Erkenntnis von Gut und Böse geben – in Gott. Gott hat sie uns voraus; sie ist göttlich. Doch wie paradox: Wenn wir sie erwerben, kommt Sterblichkeit uns zu; Gott aber ist unsterblich, obwohl er sie besitzt. So wäre unsere Sterblichkeit die Folge der Teilhabe an dem Geist des unsterblichen Gottes?

So weit zu den Voraussetzungen der Geschichte von der Ursünde. Und nun kommt darin zu dem Gewissen und der Sterblichkeit eine dritte Größe hinzu: das Verlangen. „Da sah die Frau, daß der Baum gut zum Essen, und daß er Reiz für die Augen und lustvoll anzusehen; so nahm sie von seiner Frucht und aß, und gab auch ihrem Mann bei ihr, und er aß.“ (Nach Tur-Sinai) Was ist das Verlangen? Es ist der Reiz; ich sehe eine Sache, und eine Gewalt, die mir bisher unbekannt war, zieht mich zu ihr hin. Ich will und muß die Sache haben, ich weiß nicht warum. Ich kann ohne sie nicht sein. In mein Selbstgefühl gerät ein Riß. Was ich bin, ist eindeutig und vollständig in der Sache, nach der mich verlangt. Darum ist sie so heiter und schön. Ich aber bin ein Wurm, elend, unansehnlich. Der Anblick meiner Glieder ist mir verhaßt, denn sie zeigen mir, daß ich am falschen Ort bin. Ich bin hier nicht am Platze. Ich muß fort, muß bei der begehrenswerten Sache sein, mit ihr eins werden, mit ihr verschmelzen. Zu dem Verlangen gehört existentielle Angst. Solange ich noch hier bin, ohne die Sache, nach der es mich verlangt, habe ich kein Recht zu sein. Mein Dasein verliert seine Freude und sein Recht, es ist verachtenswert. Ich hasse mein Hier und Jetzt, wenn die geliebte Sache nicht dabei ist. Nur ihr Besitz kann mir das Recht zurückgeben, überhaupt zu sein. „Mein Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr.“ Die Erinnerung an Gretchen verweist uns auf die Zeiten, in denen wir verliebt waren. Doch an jeglichem Verlangen ist ein sexuelles Moment.

Und nun kommt es zu der Erfüllung. Es gelingt mir, mich in den Besitz der geliebten Sache, des geliebten Wesens zu versetzen. Und wenn der Freudentaumel, der Rausch der Erfüllung vorbei ist, so zeigt sich, daß sie zwei Dinge mit sich bringt: das Bewußtsein der Endlichkeit, der Sterblichkeit und das moralische Bewußtsein, das Gewissen. Das Bewußtsein der Sterblichkeit ist aus der Angst entstanden, die in meinem Verlangen enthalten war, die sagte: Ich kann ohne den geliebten Gegenstand, ohne das geliebte Wesen nicht sein. Darin ist die Vorstellung meines Nicht-Seins enthalten, die Angst vor dem Tod. Und auch das Gewissen ist aus dem Verlangen entstanden: Nach der Erfüllung geht mir auf, daß ich in meinem Verlangen an nichts und niemanden gedacht habe außer der begehrten Sache. Ich wollte sie für mich allein haben, ihr Besitz sollte für mich ja die absolute Erfüllung sein. Ich habe dabei an keinen anderen Menschen gedacht und nicht die Möglichkeit erwogen, daß auch ein anderer nach ihr verlangen, und sie für ihn notwendig sein könnte. Das Verlangen hat mich zerrissen; es hat mich von mir selbst und von meiner Umgebung, meinen Mitmenschen getrennt. Es hat mich vom Allgemeinwohl getrennt und von Gott, der Macht der Gerechtigkeit, des allgemeinen Friedens. Wie soll ich dahin zurückkommen?
Liebe Gemeinde, die Rückkehr zu Gott mag lange dauern; sie wird wohl das ganze Leben in Anspruch nehmen. Allein der Text sagt unmißverständlich, womit sie beginnt: bei der Scham. Sogleich nachdem Adam und Eva gegessen hatten, heißt es: „Da gingen den beiden die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren. Und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“ (v. 7) Die Scham – das ist die Erinnerung an den Übergriff ebenso wie die Angst vor ihm. Man schämt sich, daß man Bemächtigung und Vereinigung nicht voneinander hat unterscheiden können. Man hat nur nach sich gefragt, nicht nach anderen, nicht einmal nach dem Willen des Objekts der Begierde. Die Scham entsteht schon in der Kindheit. Es ist die Zeit, in der man den Übergriff, den selbst verübten wie den erlittenen, besonders intensiv empfindet. Schon in der Kindheit entstehen mithin beide: das Gewissen und das Bewußtsein der Sterblichkeit, der Endlichkeit. Wenn wir die Geschichte von dem Baum und der Schlange als die von der Ursünde bezeichnen, so wird sie uns mehr noch deutlich als Geschichte von der Entstehung des Bewußtseins: des moralischen Bewußtseins, des Gewissens, und des existentiellen Bewußtseins, dessen unserer Endlichkeit.

Von da zu der für heute letzten Frage: Wie taugt das Bewußtsein, das moralische und das existentielle, als Brücke zu Gott? Halten wir uns auch hier an unsere Geschichte. Sie endet damit, daß Gott dem Bewußtsein der Menschen die Aufgabe stellt, die entscheidenden Züge ihres Leben von ihm anzunehmen: „Zu der Frau sprach er: Mehren und mehren will ich die Schmerzen deiner Schwangerschaft, mit Schmerzen sollst du gebären Kinder; und nach deinem Manne sei dein Verlangen, und er wird“ – liebe Gemeinde, jetzt folgt im hebräischen Urtext ein Wort, das nicht durch  e i n  deutsches Wort wiedergegeben werden kann – maschal; man benötigt dafür mindestens drei Wörter: ‚Er soll dir  g l e i c h e n ,  so daß er dich
v e r t r e t e n  kann, und wenn dein Schmerz dich hindert, deiner selbst mächtig zu sein, soll er dich auch darin vertreten: Dann soll  e r  deiner  m ä c h t i g  sein.’ „Und zu dem Mann sprach er: „Es sei verflucht der Erdboden um deinetwillen. Mit Schmerzen sollst du davon essen all die Tage deines Lebens. […] Im Schweiße deines Angesichts sollst du Brot essen, bis du kehrst zu dem Erdboden, denn von ihm bist du genommen. Denn Staub bist du und zum Staube kehrst du.“ (Nach Zunz) Der Mensch ist der Irdische; das ist die Bedeutung des Namens Adam. Er ist von der Erde genommen. Doch der Herr hat zwischen ihn und die Erde eine Fremdheit gesetzt. Nur durch Arbeit kann der Mensch sie dazu bringen, daß sie ihn sein Leben fristen läßt. Der Schmerz der Arbeit erinnert den Mann an den Schmerz der Geburt, wenn seine Frau ihn erleiden muß, und wenn er sich an seine Mutter erinnert. Beide Geschlechter werden nicht ohne Schmerz an die Gemeinsamkeit ihres Loses erinnert. Nicht ohne Schmerz erkennen sie, daß sie einander ähnlich sind und daher einander vertreten können. Im Schmerz des anderen erkennen sie den Fingerzeig, daß sie stellvertretend für ihn die Herrschaft über ihn übernehmen müssen, doch dies soll niemals ohne das Gefühl geschehen, daß sie einander ähnlich sind. Und der Frieden zwischen den Geschlechtern, der auf der Erfahrung beruht, daß sie einander ähnlich sind und daher einander vertreten können, soll das Urbild, der Ursprung und das Maß jeglichen, auch des allgemeinen Friedens sein. Durch Frieden aber werden die Menschen lernen, Gott anzunehmen. Der Frieden wird ihnen die Erinnerung an das Paradies wiedergeben, und sie wird Seligkeit genug sein. Und somit werden sie ihre Endlichkeit annehmen. Sie sind von der Erde und müssen wieder dazu werden; sie sind dadurch für immer von Gott unterschieden. Doch auch diese Einsicht gereicht ihnen am Ende zur Seligkeit – zum Frieden mit Ihm, dem Herrn der Welt, dem Geheimnis der Wirklichkeit. Liebe Gemeinde, laßt uns diese Einsichten dem Unernst und der Gedankenlosigkeit entgegensetzen, die der ruhelose, rhythmus-lose Betrieb unserer Wirtschaft dem gesellschaftlichen Leben auferlegt. Amen.

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