Von Iris Dietze, Saßnitz
Invovakit – der Beginn Jesus` Weges, der, von IHM gegangen, von uns angenommen, für uns alles entscheidend ist. Den Beginn der Passionszeit feierten wir mit gregorianischem Choral.
Einstimmig sollten die 16 Stimmen klingen. Von Innen her freudvoll darauf einlassend, dass sich Gott für unsere Schuld hingegeben hat, die Leidenszeit Jesus und seine vorhergehende Liebe zu uns bejahend. Diese Wünsche wiegen sehr schwer, geradezu unerfüllbar in einer so kurzen Zeit vom 3. bis 5. März. Und doch haben wir uns in Benz auf Usedom getroffen um dies zu lernen. Einzutauchen in das Geheimnis, in das Unermessliche, in das Unglaubliche, in das Unmenschliche, Unvernünftige und Leidvolle: in Gottes Liebe zum Menschen. Gemeinsam verbrachten wir die Zeit mit Tagesgebeten, Singübungen, Mahlzeiten, Erinnerungen nach langem Wiedersehen oder Bekanntmachen zum ersten Kennenlernen.
Ich konnte schon zur Mittagszeit am Freitag auf der Insel ankommen. Zwei autofahrende Engel haben meinen eigentlichen Fußweg von Katschow nach Benz in einen Spaziergang verwandelt, weil sie aller Vorsicht und Vernunft zum Trotz jeweils anhielten und mich, eine Unbekannte, mit Anorak und Kapuze Vermummte, fragten, ob ich ein Stück mitfahren wollte. Bei dem kalten Wind wollte ich das gerne und ich freute mich sehr über die herzlichen Gespräche im Auto. Nun hatte ich noch viel Zeit bis zum Beginn um 16 Uhr und wagte den Fußweg nach Bansin an die Ostsee. Auf dem Rückweg, gerade als ich zu bedauern begann, dass ich nicht den Bus genommen hatte, hielt wieder eine Fahrerin ihr Auto an, und bot an mich bis Benz mitzunehmen. Hocherfreut ließ ich mich vom dritten Engel an diesem Freitag ans Ziel bringen. In der Pfarrscheune hatte ich nun immer noch Zeit, mich auszuruhen.
Andere Teilnehmer hatten einen strapazenreichen Weg, bis zu 8 Stunden, auf sich genommen um das Gregorianische Singen unter der Leitung von Kantor Bernd Ebener kennenzulernen. Sie waren so hoch motiviert, dass alle gemeinsam an den bald beginnenden Singübungen und an der Complet, dem spät abendlichen Gebet teilnahmen. Singend baten wir den Herrn: Verleih uns Frieden gnädiglich. Wieviel Kraft und Freude Gott uns so oft schenkt!
Am Samstagvormittag teilte uns Dr. Tilman Beyrich seine Gedanken über Religion und ihr akustisches Design mit. Sensibel und gut vorbereitet führte er uns in die Sonosphäre ein. In dem Klangraum, der seine Grenzen in der Hörweite findet.
Er machte auf die soziale Zusammengehörigkeit durch sich hören können und sich hören wollen aufmerksam. Auch darauf, dass musikalisch eher ein Konsens gefunden werden kann als mit Worten, z. B. erreicht die Passionsmusik von Bach mehr Menschen als alle Worte über Jesus` Leidensweg. Denn alle Worte sind missverständlich und manch einer leitet seinen Humor davon ab. Dr. Beyrich berichtete vom Entzug Einzelner aus dem Massenlärm, um leer zu werden. Gott sei da, wo die Stille dominiert und so können wir uns mit der Stille füllen lassen. Im Rückzug auf die Stille und der akustischen Wiedervereinigung im Gesang können wir Gottes Wort, seine Wahrheit, jeder für sich und doch in Gemeinschaft finden. Wahrheit könne nur einzeln erkannt werden, müsse aber gemeinsam gesprochen werden. Auf äußerliche und innerliche Abkapselung, vor allem beim Musikhören, und auf die gleichzeitige Isolierung wurden wir hingewiesen. Zu Zeiten, als die Menschen gemeinsam Musik spielten, erlebten sie also eine besondere Gemeinschaft. Diesen Zauber können wir unter unseren Kopfhörern nicht erahnen. Mit Musik entrücken wir uns dieser Welt, um uns von Bildern und Texten ergreifen zu lassen. Musik lässt uns im Klang sein. Sie ummantelt uns, ist uns aber auch ein Gegenüber. Wir können Musik hören, ohne zu sehen, wir können mitten im Klang schweben und tauchen.
Jetzt muss ich leider ergänzen; wenn wir es können. Denn mir ist dies noch verborgen geblieben.
Mich durch gesungene Psalmen von Gott in Schwingungen versetzen zu lassen. Wie schön das klingt. Ich muss nicht achtgeben, was die Musik mit mir macht. Welche Synopsen in meinem Kopf in Bewegung gesetzt werden, ob ich Kaufwünsche oder andere Erregungen verspüre. Ich bin auch nicht plötzlich im Himmel oder anderen mystischen Sphären. Ich kann frei von allem werden und das Wesentliche in mir kann zum Vorschein kommen. Von Gott angesprochen, kann ich mich seiner ehrlichen und bedingungslosen Zuwendung öffnen, die nichts von mir zurückverlangt. Er bindet mich nicht, ich kann mich aber an ihn halten.
Dr. Tilman Beyrich berichtete wie Bonhoeffer seine Erfahrungen in unfreiwilliger Stille, in Einzelhaft, erlebte, dass zwei Klangräume sich nicht vermischen, wenn es keinen Weg zueinander gibt. Aber dass er auch tiefes Glück empfand, wenn Musik an seine Ohren kam. Wir glauben, dass er sich gestärkt und gehalten fühlte. In dieser, für ihn sehr schwierigen Zeit hat Bonhoeffer strenge Kriterien für Kirchenmusik festgelegt.
Doch ich meine, auch im Schwierigen, im Steinigen, im Unbequemen liegt die Weisheit. Wollen wir sie hören, kennen, uns nach ihr richten? Wollen wir einen Gottesdienst oder eine Annäherung an diese Welt. An die netten Mitmenschen mit Kirchenkaffee? Wollen wir den Gottesdienst und seine Liturgie als Unterbrechung des Alltages, als Rückzug zur Religion erleben oder soll der Gottesdienst alltäglich, nett und sympathisch angepasst sein? Musik als Weltflucht? Wo bleibt dann die Liebe zum Nächsten, der in dieser Welt lebt und nichts von Gottes Liebe ahnt, weil die Welt sie nicht spiegelt. Weil die Welt das Böse spiegelt. Dies sind die Fragen, die sich mir jetzt beim Schreiben stellen.
Einen fruchtbaren Gedankenaustausch im Anschluss des Vortrages über Gottes Gaben, sein Wort und unsere Wege zu IHM, von Musikaskese bis zum Musikerlebnis Kirche verdanken wir dem Beitrag von Dr. Tilman Beyrich.
Danach mühte sich Bernd Ebener wieder uns die Kraft des Zusingens der frohen Botschaft, des Mutmachens, des musikalischen Segnens nahezubringen. Er ermutigte uns Noten wie Perlen auf eine Schnur zu reihen. Spannungselemente aufzunehmen und in einen gesungenen Ton zu verwandeln. Er lehrte uns zurückzunehmen und doch dabei zu sein um als Chor geschmeidig zu klingen. Wies aber auch immer wieder auf das Leichtnehmen hin. Auf die Befristung des Wochenendes und das Erleben der Gregorianik im Ansatz.
2mal Vesper, 2mal Complet, 2mal Matutin, 2mal Laudes 1mal Sext, 1 Gottesdienst mit anschließendem Reisesegen und schon ist das Wochenende so weit fortgeschritten, dass alle Gedanken sich auf das Abreisen richten müssen. Dass die kommende Woche uns Konzentration abverlangt und das Leben hier mit allen Problemen und Freuden weitergeht. Einige fanden spürbar Gottes Frieden, andere lebten auf, alle schienen froh. Und somit vielen Dank an alle Teilnehmer.
Im Gottesdienst wurde ein Dankopfer in Höhe von 125 € für die Schule „Talitha kumi“ in der Nähe von Jerusalem/Bethlehem gesammelt. Die Schule wird vom Berliner Missionswerk unterstützt in ihrem vermittelnden und integrierenden Bemühen zwischen Kindern christlicher Palästinenser und muslimischen Kindern.
Nachtrag: Der erwähnte Beitrag von Dr. Tilman Beyrich liegt als Manuskript in der zum Kirchentag Schwerin (1.-3. Sept. 2006) überarbeiteten und im Rahmen des Projektes „Aus der Stille … – liturgisch-gregorianischer Tag“ vorgetragenen Form vor und ist auf Nachfrage erhältlich. (B. E.)