Homilie über Is 50, 3 – 7 am Samstag, den 16. 2. 2013, 7 Uhr früh in der Kirche Zu den vier Evangelisten in Pankow

DE MANI

„Er weckt mich alle Morgen“, heißt es Is 50, 4 in der Übersetzung Luthers, und in genauer Übersetzung:

„Mein Herr, Gott, hat mir die Sprache seines Schülers gegeben. Damit ich den Erschöpften erkenne, damit ich ihn stärke, weckt er ein Wort am Morgen. Am Morgen weckt er mir das Ohr, damit ich höre in der Weise seiner Schüler. Mein Herr, Gott, hat mir das Ohr geöffnet, und ich habe nicht widerstrebt und bin nicht zurückgewichen.“

Liebe Schwestern und Brüder,

hier beschreibt der Prophet, der Zweite Jesaja, das Erwachen des Knechts Gottes. Versuchen wir, dieser Beschreibung nahe zu kommen, in dem wir uns auf die Art besinnen, wie wir erwachen. Da heißt es: „Er weckt ein Wort am Morgen.“ Er weckt ein Wort -: Ich befinde mich im Zustand des Erwachens. Es ist ein undeutlicher Zustand, grau wie die erste Dämmerung des Morgens, in der die Konturen, die Licht und Schatten geben, noch nicht zu den Dingen zurückgekehrt sind. Wenn da ein Ding hervortritt und sich von seiner Umgebung abhebt, wirkt es gespenstisch; ihm fehlt die Tiefe des Raums. Mein Bewußtsein ist nicht zurückgekehrt. Doch es kommt allmählich, wie ein Fremder, der hier und da den Vorhang hebt, um auf die Szene zu sehen, und sich darnach einstweilen wieder zurückzieht. Es hat seine Richtung noch nicht wiedergefunden, den Zeitsinn nicht, den Willen nicht. Es sinkt zurück in Traumgedanken und nimmt sie für Erlebtes. Wenn es fühlt, wie die volle Wachheit sich nähert, ist diese nicht willkommen. Es möchte in die Dämmerung zurück sinken, die behaglich ist wie die Wärme des Bettes. Darnach auf einmal, unversehens, ein Wort in schmerzlicher Deutlichkeit: der Name eines Menschen, mit ihm die Fremdheit, die Angst, die zwischen ihm und mir entstanden ist. Die Ratlosigkeit; ich komme mit ihm nicht weiter. Ich muß aber weiterkommen. Die Stelle, an der ich ihn halte, hat er nicht verdient. Sie wird ihm nicht gerecht. Ich muß die Wahrheit sagen. Die angenehme, wie mütterliche Halbwachheit ist vertrieben. Die Sorge hat das Bewußtsein zurückgebracht.

Darnach lesen wir im Text: „Am Morgen weckt er mir das Ohr, damit ich höre in der Weise seiner Schüler.“ Ich beginne wieder, zu hören. Die Geräusche des Morgens dringen an mein Ohr. Vogelstimmen: Eine Taube ruft; nie kann ich entscheiden, ob sie lockt oder klagt. Hüte dich! oder: Komm mit! Die triftige Eröffnung des Tages: Geh mit ihm, mit der Zeit, damit gewinnst du dein Leben, doch sei wachsam. Nimm die Wachsamkeit an, die dich mit den verletzlichen Wesen verbindet, den leidensfähigen. Darnach das Zwitschern der Spatzen, und wieder eine Doppeldeutigkeit: Ist es lustig oder sachlich? Auch sie eröffnen den Tag: Die Sache des Tages ist die Arbeit, mach’ dich nur daran, nimm sie aber nicht ernster als die Tiere, sei nicht allzu überrascht, wenn sie dir auf einmal komisch erscheint und du der Lachlust nicht widerstehen kannst. Was t u n wir alle? Wir sind ja nicht bei Trost. Wir geben vor, die Zwecke und Formen der Arbeit verstünden sich von selbst, doch weit gefehlt, die Art, wie wir uns in sie schicken, ist lächerlich. Wir geben einen Ernst vor, den wir gar nicht haben und den die Arbeit nicht verdient. Dann, im Sommer, die Amsel: wie ein Trillern zuerst, darnach ein Aufschwung, ein süßer Ton in der Höhe. Dann fällt die Linie, steigt aber zum Schluß wieder an, und endet mit Schweben. Da ist kein Wort, die Natur spricht nicht, und doch wie eine Moral: Du wirst deinen Tag am besten bestehen, wenn dein Bewußtsein sich in der leichten Beweglichkeit hält, wie ich sie dir eben vorführe. Die Amsel macht mich vollends wach, ich stehe auf, gehe zum Fenster und sehe hinaus. Ein zartblauer Himmel, Schäfchenwolken daran, in dem Akkord von zwei Farben: golden und rosa. Der Himmel zeigt mir die Art, wie ich mich meinem Bewußtsein anvertrauen kann: Ich kann Klarheit darin finden, und eine Milde, die auf Versöhnung deutet.

Liebe Schwestern und Brüder,
zwei Sätze des Texte haben uns zu der Besinnung auf zwei Stadien des Erwachens geführt: „Der Herr weckt ein W o r t, zu erkennen den Erschöpften“, und: „Er weckt mein O h r.“ Zuerst das Wort der Verantwortung, ernst gebietend: Ich muß mich um meinen Nächsten kümmern, der mir fremd geworden ist. Was mir als Fremdheit, als Abwendung erscheint, ist in Wahrheit Erschöpfung. Er kommt mit mir nicht weiter. Auch ich kann nur trügerisch weiter kommen, wenn ich es nicht unternehme, zu einer Bewegung zu gelangen, die ich mit ihm teile – Vertragen und gemeinsamem Ausdruck erneuerten Lebensmutes. Dunkel, wie die Angst die Dinge färbt, steht diese Forderung vor mir. Doch dann weckt Gott mir selbst das Ohr. Ich höre die Stimmen des Morgens, die Stimmen seiner Geschöpfe, und sie sagen mir, wie ich die Heimatlichkeit der Welt wiederfinden kann. Ich muß die unwillkürliche Freude wiederfinden, in der Welt zu sein. Es ist auch ihre Freude, und sie kommt von der Freude, mit der der Herr die Welt erschuf.

Der dunkle Ernst der moralischen Forderung und die milde Klarheit, die das Bewußtsein erreicht, wenn es auf Versöhnung ausgeht -: Diese beiden Dinge kommen zusammen, wenn Gott der Herr uns weckt. Er hält sie im Gleichgewicht, damit wir nicht verzagen und unser Geist nicht in Gleichgültigkeit verebbt, sich nicht verfängt in der Nervosität, die die Weckuhr verkörpert, und nicht verliert in Langeweile. Darum bitten wir an diesem Morgen. Amen.

Dr. Lorenz Wilkens
Mendelstraße 45, 13187 Berlin

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